Die von Marta Ramos-Yzquierdo kuratierte Ausstellung zeigt ausgewählte Arbeiten von insgesamt 27 internationalen Künstlern, die sich sowohl aus der engen Galeriearbeit von Fred und Matthias Jahn als auch aus Gästen zusammensetzen. Ausgangspunkt dieser Zusammenstellung ist der Wunsch der Galerie, sich der eigenen Geschichte über die Erzählung zu nähern: Wie bemisst sich eine Erzählung, welche Elemente werden weiter gegeben, welche ausgelassen? Lässt sich mit den Mitteln der Kunst die Zukunft als eine gemeinsame Erzählung denken?
Die Ausstellung ist Zeugnis der engen Bindung, die Fred Jahn über vier Jahrzehnte mit seinen Künstlern — hauptsächlich Vertretern des amerika- nischen Minimalismus und der deutschen Kunstszene der 80er-Jahre — aufgebaut hat; Zeugnis auch seiner Begeisterung für Arbeiten auf Papier und Künstlerbücher als Medien des freien Experiments. Unterdessen öffnete Matthias Jahn seine neu gegründete Galerie für nachfolgende Generationen und frische Denkweisen. Durch ihren Zusammenschluss über parallel geführte Standorte schaffen Fred und Matthias Jahn Raum für ein engagiertes Programm, das sich aus ihrem ständigen Austausch speist.
Fred Jahns umfangreiche Bibliothek, bestehend aus mehr als 6.000 Bänden zur Kunst des Westens im 20. Jahrhundert und zu allen Editionen, die er selber verlegt hat, ist im Erdgeschoss der neuen Räume der Galerie Jahn und Jahn untergebracht. Bücher sind es auch, die im Zentrum der Ausstellung stehen und so beginnt diese, als Reflexion über die Selektionsprozesse und Kodierungen narrativer Praxen, symbolisch in der Bibliothek. Welche Form wird Sprache gegeben? Welche Erzählungen überdauern die Zeit, welche Bücher stellen wir uns ins Regal? Hier entsteht ein Dialog zwischen Büchern, Zeichnungen und neuen Arbeiten, verhandelt über die Ebene ihrer Lesbarkeit.
Das Projekt „Moderne“ postulierte im 20. Jahrhundert den Fortschritt als Letztbegründung, eine Haltung, die von Künstlern kritisch hinterfragt wurde. Dies geschah teils in Form radikal rationaler Positionierungen, teils durch die vehemente Verteidigung der Irrationalität als eine dem Menschen inhärente Eigenschaft. In der Ausstellung sind beide Perspektiven vertreten, mit Arbeiten von Karel Appel, Willi Baumeister, Heinz Butz, Per Kirkeby, Konrad Klapheck, Hermann Nitsch und Paula Rego, sowie Katalogen und Künstlerbüchern von Wolfram Erber, Isa Genzken, Imi Knoebel, Barry Le Va, Gerhard Richter, Fred Sandback und Al Taylor. Ziel der Ausstellung ist es zu zeigen, wie diese Künstler die vorherrschenden gesellschaftlichen Codes ihrer Zeit aufzuschlüsseln und neu zu besetzen begannen, ein Prozess, der sich in der Gegenwart fortsetzt, wenn auch mit neuen Positionen und veränderten Strategien. Die gezeigten Arbeiten spannen ein Netz aus Verweisen, die nicht nur die Bücher und Worte analysieren helfen, sondern auch Erinnerungen, Bilder, Formen der Wahrnehmung und des Imaginierens. In den Arbeiten dieser Künstler wird der Mensch in seiner doppelten Ausrichtung untersucht: als unabhängiges Individuum und als Teil eines kollektiven sozialen Gebildes.
Die Utopien des 20. Jahrhunderts lösten sich nicht ein und die Diskurse, die folgten, glichen einer Bestandsaufnahme der Ruinen, die dazu dienen sollte, aus den Fragmenten dieses Denkens, jenseits von Revisionismus, etwas Neues zu erschaffen. Die Diskurse der Gegenwart wiederum verfolgen einen Ansatz, der sich dem „Anderen“ öffnet: Denkweisen und philosophische Strömungen, die immer wieder abgelehnt, ignoriert oder gezielt ausgelöscht wurden. Der Versuch, das „Andere“ zu denken, ist auch das Hauptmotiv der Ausstellung. Zunächst geht es um unser Verhältnis zum „Femininen“ — sowohl als Bedingung als auch als Ort des Betrachtens. Außerdem werden neue Perspektiven auf die Natur und die Möglichkeiten von ihr zu lernen, gefolgt von Reflexionen über Technologie als Schnittstelle zur Welt, aufgezeigt. Einen weiteren Schwerpunkt bildet die Gegenüberstellung divergierender Zeitkonzepte und Geschichtsschreibungen, die über die verschiedenen Kulturen hinweg zu finden sind.
Mit dem Film Made in Brazil der brasilianischen Künstlerin Letícia Parente, wird eine Pionierarbeit der 70er Jahre gezeigt. Ebenfalls herausragende Arbeiten sind das Video Extrañeza, desprecio, dolor y un largo etc. [Fremdheit, Geringschätzung, Sorge und ein langes et cetera] der spanischen Künstlerin Esther Ferrer und das feministische Manifest Estudo para facadas [Studie für Stiche] von Lenora de Barro, die ebenfalls aus Brasilien stammt. Um eine erfrischende Perspektive ergänzt, wird der weibliche Blick an dieser Stelle durch den neusten Film von Pauline Beaudemont.
Carlos Amorales zeigt Partituren, die bereits im mexikanischen Pavillon zu sehen waren, einer der bedeutendsten Beiträge zur 57. Biennale in Venedig. Reflexionen über kodierte Systeme als Sprache finden sich auch in Julius Heinemanns Zeichenheft und Laure Prouvosts Installation, die das Verhältnis von Bild und Wort thematisiert.
Die Arbeiten von Daniel Steegmann Mangrané, Eduardo Navarro und Enrique Radigales eint, dass sie die Natur als Ausgangspunkt wählen, um über alternative Methoden und Technologien zu reflektieren. Dem gegenübergestellt sind die Arbeiten des österreichischen Künstlers Oliver Laric als Überlegungen zu der Reproduzierbarkeit und Abbildbarkeit kollektiver Erinnerung.
Vier der Gastkünstler haben Werke eigens für die Ausstellung produziert: Marlon de Azambujas Installation verhandelt die Themen Stabilität und Erinnerung; Alessandro Balteo Yazbeck verwendet Bildmaterial mit Bezug auf die Geschichte der Galerie, um Machtbeziehung zu abstrahieren; Victor Leguy greift in das Ordnungssystem der Bibliothek ein und Sarah Lehnerer bricht mit ihrer Arbeit den stets nur Teilbereiche abdeckenden Blickwinkel subjektiver Betrachtung auf, um eine alternative Lesart der Ausstellung zu ermöglichen.
Zur Kuratorin:
Marta Ramos-Yzquierdo ist eine freie Kuratorin aus Spanien. Den Schwerpunkt ihrer Praxis bildet die Analyse der gesellschaftlichen Rezeption künstlerischen Schaffens unter dem Gesichtspunkt der Arbeit. Diese Untersuchung fand ihren Anfang mit Artist Working, (Thinking on) New Economies, einer Bestandsaufnahme und Ausstellung über die Arbeitsbedingungen in der zeitgenössischen Kunst. Dieses Projekt wurde mithilfe der soziologischen Expertise Ana Leticia Fialhos realisiert. Ramos-Yzquierdo ist außerdem Mitglied von History in Display (WT), einem Projekt in Kollaboration mit zeitgenössischen Künstlern, das sich kritisch in die musealen Institutionen Brasiliens einbringt.
Diesen beiden Strängen ihrer Forschung folgend, kuratierte Ramos-Yzquierdo: Emmathomasteca; Error As a Star; Sublime And Dystopia, Ícaro Lira: General Field, und WORK – DO +, in São Paulo, Brasilien; History Is Written by the Victors, Felipe Ehrenberg 67//15 und das Begleitprogramm Visual Scores, sowie After, Depois, Según, in Madrid, Spanien; Rafa Munárriz, Sulla curva chiusa in Cagliari, Italien; sowie Applications of the Various Flow Theories, mit Carlos Amorales und Los Torreznos als Gäste in Buenos Aires, Argentinien.
Neben Publikationen für Magazine wie Arte al día, arthishock und a-desk.org, schrieb sie zahlreiche Texte über Künstler, unter anderem für Ricardo Alcaide, Marlon de Azambuja, Alberto Casari, Cristina Garrido, Julius Heinemann, Victor Leguy, Bruno Moreschi, Yoshua Okón, Sara Ramo, Flora Rebollo, Matheus Rocha Pitta, Sara & André, Tercerunquinto und Fábio Tremonte.
Marta Ramos-Yzquierdo erwarb ihren Abschluss in Kunstgeschichte an der UCM Madrid und machte einen Master in Kulturmanagement am Instituto Ortega y Gasset. Sie ist im unabhängigen Kuratoren-Netzwerk ICI New York aktiv, (sie nahm in diesem Rahmen an der Curatorial Intensive Bogotà 2014 teil). Nachdem sie fünf Jahre in Chile gelebt hatte, zog sie 2009 nach Brasilien, um die Galera Baró zu leiten. Zwischen 2012 und 2013 war sie Direktorin des unabhängigen Kunstzentrums Pivô. Zurück in Spanien, leitete sie die LOOP Kunstmesse 2017. Derzeit setzt sie ihre Forschung und die Arbeit an neuen Projekten in Barcelona fort.
Text von Marta Ramos-Yzquierdo, aus dem Englischen übersetzt von Marie von Heyl.