Der Titel ‚Antinomia‘ verweist auf Streit, die Einladungskarte auf Krieg. Immanuel Kant nennt Antinomie den „Widerstreit der transzendentalen Ideen“. Die Karte bezieht sich auf die Schlacht von Pydna 168 vor Christus oder allgemein auf den Gegensatz von Griechen und Römern in der Antike.
Besonders die Aquarelle von Berthold Reiß hat man als „schön“ beschrieben und zugleich betont, dass sich diese Schönheit nicht oder nicht rational fassen läßt. Der Kurator David Elliott schreibt über die Aquarelle von Berthold Reiß in der 17. Biennale von Sydney, 2010: „Die Schönheit dieser Blätter liegt in ihrer Reduktion, die farbigen Flächen darin scheinen eine Art spirituelles Wunder zu verbergen.“ Cassy Smith findet zu der Einzelausstellung Tanagra in der Galerie Jahn Baaderstraße, 2010 die einfache Formel: „The logic is irrelevant, the beauty is imperative.“
Welcher Streit geht diesem Imperium voraus? Der Vortrag von Berthold Reiß handelt vom römischen Imperium, seinem kriegerischen Entstehen, vor allem aber von seinem inneren Widerspruch: Schon das Wort „Imperium“ heißt zunächst „Befehl“, dann erst „Reich“. Die Rede vom Imperium findet die bekannte Erfahrung, dass die wirkliche Welt unserem Konzept von ihr gewissermaßen selbst widerspricht, in der Antike.
Die Antike wird so zum Modell der Moderne. Die Arbeit von Berthold Reiß kann diese Übertragung, die die Frage nach Identität seit der römischen Wahl des griechischen Vorbilds geprägt hat, von neuem verkörpern. Diese Möglichkeit, sich selbst im Anderen zu entdecken, wird von der direkten Identifikation mit sich selbst nicht nur historisch abgelöst, sondern dauernd verdunkelt. Denn der eigene Ausdruck muß sich behaupten als Zweifel an allem Anderen, als Skepsis, nicht als Kritik. Berthold Reiß spricht dagegen von der Außenwelt und von der Geschichte, aber scheinbar nicht von sich selbst. Die Ausstellung ‚Antinomia‘ zeigt dieses scheinbare Fehlen von Ausdruck als Ausdruck einer kritischen Beschreibung von Identität. Diese Kritik stellt sich dar als Archäologie. Es ist, als ob der Schutt weggeräumt würde, den die authentische Behauptung um einen Kern herum angehäuft hat, weil sie immer meinte, den Kern selber zu treffen.
In der Ausstellung ‚Antinomia‘ stellen sich Außenwelt und Geschichte dar als Forum und als Archiv. Auf dem Forum konfrontiert Berthold Reiß neue, großformatige Bilder auf Leinwand mit früheren Arbeiten. Diese sind teilweise Modelle zu realisierten großen Wandarbeiten und zu einer Skulptur. Zwei neue Skulpturen sind lesbar als Modelle römischer Architektur. Das Archiv umfasst Aquarelle, die auf ihre Weise ein Reich der Schönheit verkörpern.
Forum und Archiv, Außenwelt und Geschichte, Gegenwart und Vergangenheit tauschen sich aus. In ‚Antinomia‘ ist das Reich der Schönheit nicht nur als einzelne Erscheinung verkörpert. Es erscheint vor allem als mögliche Zukunft.